Fa_001_2007 • 160 x 210cm • München

Artikel aus der Süddeutschen Zeitung, 8. August 2015

Fotokunst

Bitte nicht lächeln

Das große Familienporträt ist ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Der Künstler Frank Wurzer hat es als ironische Inszenierung neu erfunden.


Von Harald Hordych

Mit Lilli stimmt irgendwas nicht. Die ganze Familie steht auf einer Wiese, und wie es sich gehört, schauen alle in die Kamera. Nur Lilli hat dem Fotografen den Rücken gekehrt. Und geht einfach weg. Raus aus dem Bild.


Wenn aber mit Lilli etwas nicht stimmt, dann stimmt auch mit der Familie etwas nicht. Weil Familien nur intakt sind, wenn jedes Familienmitglied intakt ist. So ist die Logik der Familie, zumindest wenn sie sich auf einem Bild oder auf einem Gemälde präsentiert. Jeder soll möglichst gut getroffen sein und keiner aus der Reihe tanzen. Irritationen zerstören den Moment, der für die Ewigkeit festgehalten wird.

Nach den Regeln des klassischen Familienbilds hat also die Familie von Bernd, einem gebürtigen Münchner, der selbständig im Textilgeschäft arbeitet, ein Problem. Mal abgesehen davon, dass auf diesem Bild alle Klamotten überhaupt nicht zusammenpassen. Insgesamt erzeugt dieses Porträt einen disparaten Familieneindruck, und das auch noch in der Größe von 2,40 Meter mal 1,80 Meter. Das Familiendesaster hängt wandfüllend gleich neben dem Esstisch in dem schönen, großen Haus in Grünwald. „Ich habe dieses Bild immer als extrem harmonisch empfunden. Wir lieben es alle“, erklärt Bernd. Dann schaut er auf die mit Kunst vollgehängten Wände und fügt hinzu: „Wobei, wir lieben schon ein bisschen das Skurrile.“


Vielleicht ist das der richtige Ansatz, um zu verstehen, warum Frank Wurzers ungewöhnliche Familienporträts in Cinemascope-Größe in der eigenen Wohnung genauso gut wie in der Ausstellung eines Kunstvereins funktionieren. Für den Betrachter sind sie eine Entdeckungsreise in fremde Familien, für die eigene Familie eine Entdeckungsreise in die Vergangenheit.


Wurzers Familienporträts sind Kunstwerke, auch wenn er sie sich mit fünfstelligen Beträgen bezahlen lässt. Darauf legt er großen Wert. Deswegen sind sie auch so groß. Normale Familienbildnisse in diesem Format wären mindestens peinlich. Sie würden überdimensioniert präsentieren, was schon im Kleinformat nur schwer zu ertragen ist: die Sehnsucht, Harmonie und Gemeinschaft unter Beweis zu stellen. Was eben skurril wirkt, weil nichts so angreifbar ist wie eine Gruppe, die sich aus Eltern und Kindern zusammensetzt.


So hatte schließlich alles angefangen mit dem Familienbild, im 15. Jahrhundert mit Gemälden, auf denen Jesus von Nazareth, seine Mutter Maria und sein Ziehvater, der Heilige Josef, als Familie abgebildet wurden. Heiliger ging’s nicht. Irgendwann beanspruchten dann auch Herrscher diese überhöhte Präsentation für sich. Dass die bürgerliche Familie diesem Ideal im 19. Jahrhundert nicht nachstehen wollte, ist nur recht und billig. Wir sind auch wer: Wir Meiers, wir Müllers und wir Schmidts.


Wenn Frank Wurzer in einem Berliner Café in Mitte von seinen Familienporträts erzählt, dann ist das für ihn wie so oft, wenn Künstler erklären sollen, was sie mit ihrer Kunst sagen wollen: im Grunde anstrengend und mühsam. Der lebhafte, temperamentvolle Wurzer sucht, wie er sagt, nach den Codes für Reichtum, nach den Zeichen, die Luxus in Familien hinterlässt. Um diese Zeichen geht es in dem Arrangement der Familie. „Die Familien werden bei mir zur Kunst“, erklärt Wurzer, „aber dahinter können sie sich auch verstecken. Denn das ist abstrakt. Da tut niemand, als bilde er die Wirklichkeit ab und natürlich erst recht kein normale Familienszene: Da zeigt man kein Kind von hinten!“ Das klingt durchaus befreiend – wenn man sich nicht zu wichtig nimmt.


Es genügt, sich in Bernds weißgekalktem Haus oder in dem weitläufigen Garten mit Swimmingpool umzuschauen, um Frank Wurzer vor allem als großen Ironiker zu begreifen, der es liebt, Risse in unser glattes Bild von Wirklichkeit zu treiben. Wurzer spielt mit Konventionen und Vereinbarungen, er inszeniert Brüche, die das Arrangement zum Kippen bringen. In der Küche hängt eine große weiße Uhr von Wurzer, alle Zeiger sind kaputt. Immer wieder gibt es Gäste, die Bernd freundlich darauf hinweisen, dass die Uhr kaputt ist. Ob er das noch nicht gemerkt hat? Manche versuchen gleich, sie zu reparieren. Im Garten steht ein Sack, ist Erde darin? Nein, der Wurzer-Sack besteht selbst aus Erde.


Das sind die Spiele, die Wurzer, 53, gern mit der Wirklichkeit treibt – und genau das macht er auch mit den Familien, die er porträtieren darf. Sie lassen ihn in ihr Haus und geben ihm die Erlaubnis, sich durch ihr Leben zu wühlen. Den ganzen Tag. Sie sind bereit, sich so hinzustellen, wie er das möchte. Das ist seine Bedingung. „Es funktioniert nur, wenn ich das Handwerkszeug zur Verfügung habe“, sagt er. Damit meint er ihre Lebensausrüstung, ihre Kleider, ihre Accessoires, ihre Original-Umgebung „Ich komme nur, wenn ihr mir eure Schränke zeigt. Und das machen sie nur, weil da kein Fotograf ins Haus kommt, sondern ein Künstler.“ Fotografie interessiert ihn überhaupt nicht, die ist nur das Medium auf dem Weg zu seinen Themen: Reichtum, Luxus, Familie, die er als Ort sieht, „wo Respekt und Gerechtigkeit herrschen – oder zumindest herrschen sollen“.


Die Risse in der Welt und in der Familie hat Wurzer früh empfunden. Sein leiblicher Vater trennte sich von der Mutter, als er zwei war, der Stiefvater war von dem wilden Sohn „total überfordert“, der acht verschiedene Schulen besuchte und auch das Jesuiteninternat ohne Abschluss mit 17 verließ. Der junge Mann, der als Kind sehr stotterte, beschloss Künstler zu werden, drehte Super-8-Filme, wurde dann aber lieber erst mal Lebenskünstler und schlug sich in Spanien mit Gelegenheitsjobs durch. Mit 27 ging er zur Kunstmetropole Düsseldorf, um für den Bildhauer Tony Cragg zu arbeiten. Er stellte Gipsformen für Bronzeskulpturen her. Die folgenden drei Jahre nennt er seine wichtigsten, weil er da lernte, „mir immer wieder der Frage zustellen: Wie setze ich eine Idee am besten um?“
Die Zusammenarbeit endete mit einem Riesenstreit, Wurzer arbeitete danach viele Jahre als Werbefotograf, der Brotberuf spendierte ihm die Freiheit für seine Projekte. Seit vier Jahren konzentriert er sich auf die Kunst. Einen Lebensmittelpunkt hat er nicht. „Da wo ich bin, bin ich.“ Berlin, München, Düsseldorf, Amerika.


Mit Brüchen im Leben kennt Frank Wurzer sich aus. Nach einer langen Nacht auf dem Oktoberfest entsteht das Bild von Bernds Familie 2007 aus einer beschwingt-verkaterten Stimmung heraus. Wurzer stellt die Familie so auf, wie er es für richtig hält. Nicht klassisch, mit den Eltern als Zentrum, wie man es vom Hochzeitsbild im „Paten“ kennt. Auch das Klick fehlt, das gute alte Signal, dass ein Foto im Kasten ist. Das Bild entsteht in einem langen Prozess. Acht Stunden sind keine Seltenheit. Wurzer macht Collagen, er fügt verschiedene Fotos zu einem zusammen, um Momente zu bündeln, die „man niemals bei einer einzelnen Aufnahme festhalten kann“.


Niemand lacht oder gestikuliert hier. Der Ausdruck ist neutral und betont künstlich, wie überhaupt die ganze Situation überdeutlich inszeniert wirkt, egal, ob nun die männlichen Mitglieder einer Familie im Smoking präsentiert werden oder bei einer anderen im Grunde mehr Wert auf die seltsamen Haltungen gelegt wird, in denen die Haustiere rund um ums Sofa postiert sind. „Was ich mache, geht nur in reichen Familien, die einen Sinn für Kunst haben“, sagt Wurzer. Nicht nur wegen der Preise, auch wegen der Ironie, die diesen Fotos das Blasierte und „Dickbrasige“ nehmen, wie Bernd meint. „Und vor allem das Künstliche, das klassische Familienfotos haben, diese inszenierte Natürlichkeit. Nichts ist aufgesetzt und falsch.“ Jeder Gast habe das Riesenfoto super gefunden, keiner peinlich, nie angeberhaft. Einige haben sofort einen Termin mit Wurzer ausgemacht.


Bernds Sohn sagt acht Jahre nach der Aufnahme im Kampfanzug, den Frank Wurzer ihm angezogen hat: „Alle meine Freunde finden das Bild total komisch!“ Damit lässt es sich leben. Jetzt überlegt die Familie, ein Back-up von Wurzer anfertigen zu lassen. Lilli hat schon versprochen, dass sie diesmal nicht weggehen wird.